Das Jahrzehnt der Abhärtung

Stell Dir mal folgendes vor.

Du willst Vermögen aufbauen und dafür einen Teil deines monatlichen Einkommens investieren.
Du hast gelernt, dass Aktien die beste Rendite bringen. Aber auch, dass Du diese Rendite nur über ziemlich lange Zeiträume erwarten kannst. Weil Aktien starken Wertschwankungen unterliegen.
Du bist noch jung. Deshalb hast Du Dir überlegt, dass Du 20% Deines Kapitals schwankungsarm («sicher») anlegst und 80% in Aktien.
Du hast auch etwas über Diversifikation und die Wichtigkeit niedriger Gebühren gelernt. Deshalb bildest Du den 80% prozentigen Aktienanteil Deines Portfolios über einen ETF auf den MSCI World Index ab. Der ist breit diversifiziert und kostet so gut wie keine renditeschädlichen Gebühren.
Ausserdem beschliesst Du, Dein Konzept langfristig durchzuziehen und einmal gekaufte Fondsanteile unter keinen Umständen zu verkaufen. Deine Sparrate, die Du mit jeder Gehaltserhöhung nach oben anpasst, fliesst monatlich in die Assetklasse, die gerade unterhalb des jeweiligen Sollwertes ist (also auf Dein Cash-Konto oder in den Aktien-ETF).

Ein guter Plan?

Ich würde sagen, das klingt alles nach einem soliden Plan!

Aber nach zehn Jahren stellst Du folgendes fest.

Du hast 21% Deines eingesetzten Kapitals «verloren».
Der Aktienindex hat im Schnitt 2.3% Minus pro Jahr gemacht. Dein Portfolio sogar 4.8% Minus (jeweils nach internem Zinsfuß berechnet). Über zehn Jahre hinweg.
Trotz Diversifikation, Langfristigkeit, Rebalancing und niedriger Gebühren. Ein Trauerspiel.

Ein fiktives Szenario?

Nein. Willkommen im Jahrzehnt von Anfang 1999 bis Anfang 2009.
Da wäre Dein solider Plan ziemlich hässlich gelaufen. Auch mit einem Aktienanteil von nur 50% hättest Du elf Prozent des eingesetzten Kapitals «verloren» (interner Zinsfuß -2.4% pro Jahr). Dem Cashanteil habe ich eine Verzinsung von 1% unterstellt. Das ist für diesen Zeitraum etwas pessimistisch geschätzt. Mit Anleihen statt Cash wären bessere Renditen und Diversifikationseigenschaften im sicheren Portfolioanteil möglich gewesen. Auch sollten Deine Gehaltserhöhungen deutlich höher ausfallen als die angenommenen 1% pro Jahr. Aber das ist nicht der Punkt dieses Artikels.

Mir geht es darum, ein ganz konkretes Beispiel für eine Durststrecke zu illustrieren. Das war kein Crash, der nach ein paar Monaten vergessen war. Das waren zehn magere Jahre. Dotcom-Krise 2000-2003 und Finanzkrise 2007-2008. So etwas gab es. So etwas wird es wieder geben. Vielleicht beginnt ein solches Jahrzehnt ja gerade heute? Bei aller Begeisterung über ETFs, Sparpläne und langfristige Aktienmarktrenditen ist es hilfreich, sich das immer mal wieder vor Augen zu halten.

Null Problemo!

Ich schreibe «verloren» oben in Anführungszeichen, weil Du natürlich nichts wirklich verloren hast. Das investierte Geld ist nicht verloren, sondern wurde zum Kauf von ETF-Anteilen verwendet. Alle gekauften ETF-Anteile sind immer noch da. Und vom uninvestierten Cashanteil ist auch nichts verloren gegangen. Lediglich der Marktpreis Deiner ETF-Anteile ist zu manchen Zeitpunkten (zufälligerweise besonders zum Ende der Betrachtungsperiode) unter Deinen Kaufpreis gesunken. Das wäre nur dann ein Problem, wenn Du verkaufen wolltest. Da Verkaufen aber nicht Teil Deines Plans ist, ist es kein Problem.

Die wirklich wichtigen Nachrichten zum Ende der Periode:

  1. Du hast in dieser Zeit einen schönen Grundstock an Aktien aufgebaut. Die Rendite war zwar mies, aber dein absolutes investiertes Kapital ist stark gewachsen.
  2. Du hast den Härtetest bestanden. Du hast Deine Strategie nicht über den Haufen geworfen. Das regelmäßige Investieren in volatile Märkte hast Du trotz aller Krisen verinnerlicht.
  3. Den Lohn für 1 und 2 erntest Du im nun folgenden Jahrzehnt, das Dir erfreuliche Renditen (und bei Beibehaltung der Strategie einen Gesamtwert von knapp 600000 EUR) bringt. Du kannst Dich glücklich schätzen, Dich vorher zehn Jahre lang «günstig» mit Aktien eingedeckt zu haben.

Wie lief das konkret?

Die diesem Artikel zugrunde liegende Simulation verwendet folgende Parameter:

  • Initiale monatliche Einzahlung: 1000 EUR
  • Steigerung der Einzahlung und Verzinsung des Cashanteils: 1% pro Jahr.
  • Die Performance des Aktienanteils entspricht dem MSCI World TRN in EUR
  • Steuern (ausser den Quellensteuern im Index) und Gebühren wurden nicht berücksichtigt.

Grafisch lässt sich das ganze folgendermassen darstellen.

Die gestapelten Säulen zeigen in ihrer Höhe den Gesamtwert Deines Portfolios am Ende jedes Monats. Die farbliche Unterscheidung von Cash und Aktien lässt ihr ungefähres Verhältnis erkennen. Angestrebt wurde durch die Einzahlungen stets ein Verhältnis 20 zu 80, was meist gelang. Nur 2002 und 2008 stieg der Cashanteil durch die schwache Entwicklung des Aktienindex kurzfristig auf 25%. Hier hättest Du ein ausserordentliches Rebalancing durchführen können. Also den Cashanteil durch Kauf von ETF-Anteilen wieder auf 20% bringen können. Das hätte zwar im Betrachtungszeitraum nicht viel gebracht, aber im folgenden Jahrzehnt die Rendite ganz leicht erhöht. Die gestrichelte Linie zeigt die Gesamtsumme des investierten Kapitals. Gut zu erkennen: nach langer Durststrecke 2001 bis 2005 lagst Du ca. drei Jahre lang «im Plus», bis der Aktien-Absturz Ende 2008 Dein Portfolio um 21% unter Deine Einzahlungssumme drückte.

Fast niemand wünscht sich ein weiteres derartiges Jahrzehnt. Aus Sicht eines jungen Investors ist eine solche Episode aber etwas sehr gutes. Solange er die Zeit durchsteht. Danach ist er abgehärtet, krisenerprobt und hat günstig den Grundstock für seinen künftigen Vermögensaufbau gelegt. Denn ein Jahrzehnt ist erst der Anfang.

4 Gedanken zu „Das Jahrzehnt der Abhärtung“

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